Nicole Althaus
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Mecklenburg-Vorpommern – Annabelle 14/09
Annabelle 6/2002
Text: Nicole Althaus
Fotografien: Rita Palanikumar
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Strasse der Sehnsucht

Keine Strasse der USA ist schöner und keine teurer als Kaliforniens Highway 1. Und nirgends liegen Himmel und Hölle näher beisammen als im Küstenstreifen Big Sur.

 Wie eine Sirene sitzt sie am Abgrund. Sie ruft und lockt. Räkelt sich verheissungsvoll die Pazifikküste entlang und schmückt sie wie ein silbernes Band. Ihre Schönheit ist betörend und ihre Ausstrahlung legendär. Sie verbindet den Norden mit dem Süden, Kanada mit Mexiko, San Francisco mit Los Angeles und den Himmel mit der Hölle. Der Highway 1 ist die Traumstrasse der USA. Niemand kann sich ihrem Zauber entziehen. Und wer einmal auf ihr gefahren ist, kommt nie mehr von ihr los.

25 Mal sind Esther (77) und George (81) diese Strasse schon hochgerollt. Vielleicht auch mehr. Früher jedes Jahr einmal, von Los Angeles bis an die kanadische Grenze. Die Fahrt auf dem Highway 1 gehört zu ihrer Ehe wie der Gutenachtkuss am Abend. Auch heute noch, wo für sie das Reisen beschwerlicher geworden ist und die Zeit knapp. «Jetzt sind wir alt», sagt Esther, «und wissen nicht, wie lange wir noch da sind. Aber solange wir können, müssen wir den Highway hoch, nur um sicher zu sein, dass Big Sur noch da ist und die Erinnerung uns nicht trügt.»

Was Esther und George gefunden haben, suchen in Big Sur, dem «grossen Süden», viele. So steil wachsen hier die Berge aus dem Wasser, dass sie dem Highway dauernd im Weg stehen und die Sicht auf die nächste Strassenmeile beschränken. Hinter jedem Felsrücken könnte es sich verstecken, das Glück. So überschwemmen im Frühjahr und Sommer Hochzeitstouristen und Honeymoon-Pärchen den Highway 1 regelmässig. Denn der etwa neunzig Meilen lange Küstenstreifen zwischen Carmel und San Simeon bildet den perfekten Hintergrund für den amerikanischen Traum in Weiss: Da, wo sich vor vierzig Millionen Jahren die Pazifische Platte unter die Nordamerikanische schob und die Lucia Mountains aus dem Wasser hob, fallen noch heute die Flüsse aus hundert Meter Höhe auf unberührte Sandstrände, da schiessen Redwoods in ungeahnte Höhen, und jeden Winter kommen die Robben her, um sich zu paaren.

Sogar Harmony liegt am Weg: Ein paar Meilen südlich von Cambria, direkt am Highway 1, stehen die sechs Häuser des 18-Seelen-Dörfchens, das heute auf keiner Karte mehr zu finden ist. Früher kriegte man hier die besten Milchprodukte der Gegend, heute den vielversprechendsten Ehesegen. Rund 150 Ehen werden in Harmony jedes Jahr geschlossen, das sind beinahe drei pro Woche. Aus der ganzen Welt reisen die Pärchen hierher, um sich in der winzigen Wedding Chapel das Jawort zu geben.

«Warum soll es ihn nicht geben, den magischen Ort?», sagten sich Mandy (28) und Vernon (30), damals, als sie zur Hochzeit von Freunden nach Harmony geladen waren. Heute, fünf Jahre und zwei Kinder später, sind sie hierher zurückgekehrt, als Braut und Bräutigam, um sich selbst eine harmonische Zukunft zu sichern.

Den Himmel ohne Hölle aber gibt es nicht. Auch nicht am High- way 1. Der Wellendonner aus der Tiefe erinnert ständig an den Abgrund unter dem Idyll. Vor allem nach Sonnenuntergang, wenn die Dunkelheit die Steilküste von Big Sur hochschleicht und der Pazifik gegen den Berg rollt, wenn die Wellen brüllend den Fels hochspringen und sich zischend wieder zurückziehen, als wollten sie alles mitreissen in das tiefe dunkle Nass. Dann wird das Leben an der Klippe zur Metapher für das Dasein schlechthin.

Rita Hayworth muss dieses Naturschauspiel den Boden unter den Füssen weggezogen haben. Noch in der Hochzeitsnacht soll sie aus dem Liebesnest geflohen sein, das der Regisseur Orson Welles für sich und seine Braut im Big Sur River Valley errichtet hatte. So zumindest lautet die Version der Einheimischen in der Lucia-Bar. Und sie fügen auch gleich an, dass Rita und Orson kein Einzelfall seien. «Immer wieder lassen sich Touristen hier nieder», erzählt Bob, der Schulbusfahrer. «Meist kommen sie aus der Stadt und sind einmal unseren Highway langgefahren, haben die Magie gespürt und sich ein Haus gebaut für teures Geld. Geblieben aber sind sie keinen Winter.»

Der 64-jährige Mann greift sich in den weissen Bart und fügt dann an: «Wissen Sie, lieben können diese Strasse alle, aber an ihr leben nur wenige. Denn hier gibt es nichts als die Natur und ganz viel Zeit. Kein Radio, kein Fernsehen und oft auch kein Telefon. Man produziert seinen Strom selber und sammelt das eigene Trinkwasser. Man muss schon sich selbst genügen, sonst frisst einen Big Sur auf.»

Bob muss es wissen. 1958 ist er von Montana hierher gezogen, und seit Jahren fährt der Schulbusfahrer den Highway rauf und runter, rund 26 Meilen vom Point-Sur-Leuchtturm bis zur Captain-Cooper-Schule. Morgens früh liest er die zwanzig Kinder am Rand der Strasse auf, und abends bringt er sie dorthin zurück. Er hat erlebt, wie Künstlerzirkel sich hier niederliessen und wieder abzogen, wie die Blumenkinder das Paradies vereinnahmten und später die New-Age-Welle den «grossen Süden» überschwemmte.

Er hat erlebt, wie Träume auf dem Highway 1 geboren wurden und die Hoffnung auf ihm zerschellte. Denn die Strasse der Träume hat auch einen dunklen Ruf. «Auf unserem Highway fahren immer wieder Menschen in den Abgrund», sagt Joe, der Sheriff. «Sie kommen hierher mit Problemen im Kopf und Hoffnung im Herzen. Und dann finden sie nicht, was sie gesucht haben, und stürzen sich mit dem Auto in die Tiefe.» Fast die Hälfte aller tödlichen Unfälle auf dem Highway sind laut dem 32-jährigen Polizisten Selbstmorde. Immer dann, wenn Joe keine Bremsspuren auf der Strasse findet, kein Zeichen von einem Korrigiermanöver am Abgrund. «Manchmal kann ich einen Menschen lebend bergen», sagt Joe, «dafür liebe ich meinen Job.» Sonst aber passiert hier wenig. Ab und zu schlagen sich ein paar Einheimische die Köpfe ein, und manchmal geht ein Betrunkener mitten in der Nacht auf dem Highway spazieren. «Wer hier als Sheriff arbeiten will, muss die Vorurteile dort lassen, wo er herkommt. Denn die Menschen, die hier leben, sind Odd-Fellows, schräge Vögel.»

Wirklich niedergelassen haben sich hier nur wenige. Irgendwo haben sie ein angefangenes Leben zurückgelassen und ihren Nachnamen, um hier neu anzufangen. Als Bob, der Schulbusfahrer, oder Teresa, die Strassenarbeiterin, als Mario, der Müllmann, und Joe, der Sheriff. Sie lieben die Einsamkeit und haben dafür gesorgt, dass nirgendwo an der Big-Sur-Küste so etwas wie ein Dorfkern entstanden ist. Wie Brosamen liegen ihre Häuser entlang dem Highway verstreut. Der nächste Nachbar ist stets ein paar Meilen entfernt. Sie leben von und auf der Strasse, und der Highway ist das Einzige, was sie verbindet.

Im Winter kann es passieren, dass auch diese Verbindung gekappt ist. Dass das Dasein auch ganz physisch ins Rutschen gerät und eine Gerölllawine den Highway, den Strafgefangene in den Dreissigerjahren aus dem Fels gehauen haben, wieder wegreisst. Dann gibt es manchmal wochenlang kein Fortkommen mehr, wochenlang keine andere Menschenseele, und man zehrt von den Vorräten, die man wohl wissend angelegt hat. Bis Teresa, die Strassenarbeiterin, mit ihren Männern die Steine wieder aus dem Weg geräumt hat. Das tun die 44-jährige Chefin und ihr 25-köpfiges Team ohne Unterbruch. Denn ein starker Regenguss genügt, um das Geröll am Berg zu lösen. Nicht umsonst ist der schönste Highway der USA auch einer der teuersten. Jede seiner 1500 Meilen frisst Millionen aus dem Staatsbudget.

Träume können eben teuer werden», meint Mario, der Müllmann. Der 50-Jährige hat seine längst entsorgt. Seit er die Schule verlassen hat, befreit er den Highway vom Abfall. Und der wächst mit der Zahl der Touristen. Doch seine Arbeit, meint Mario, bekomme ihm gut: «Ich habe vielleicht nicht den schönsten Job, aber ich mache ihn am schönsten Ort der Welt. Ich kann mir nur wenig leisten, aber wenn ich mich mittags an den Strassenrand setze, mein Sandwich esse und über dem glitzernden Pazifik throne, fühle ich mich wie ein König. Wissen Sie», sagt er und schlürft aus einem Pappbecher Kaffee, «viele Menschen legen Tausende von Meilen zurück, um sich diesen Traum zu erfüllen. Und dann merken sie nicht einmal, dass sie angekommen sind. «Where is Big Sur?», fragen sie und stehen mitten drin.»

Mario schüttelt den Kopf und schaut der Strasse nach, die in der Abendsonne glänzt, als hätte sie das Licht des ganzen Tags verschluckt. Die Strasse, die alle verzaubert und wenige nur erlöst. Denn wo die Sehnsucht mitfährt, da führt kein Weg ans Ziel.

Das ist die Geschichte einer Strasse, die den Osten mit dem Westen verbindet und das Gestern mit dem Heute. Sie wäre schnell erzählt, folgte man einfach der Strasse, dieser schönsten aller deutschen Strassen, die in Sellin auf Rügen beginnt und vor der Insel Reichenau am Bodensee endet, die über weite Strecken ihrer 2500 Kilometer Länge gesäumt ist mit jahrhundertealten Bäumen und die deshalb seit 1993 als Deutsche Alleenstrasse unter Schutz steht.

Von den romantischen Bädern Rügens wäre in dieser Geschichte zu lesen, von den Seen und Wäldern Mecklenburgs, die so unberührt sind, als hätte Gott sie gestern erst erschaffen. Von Dörfern und Städtchen an der Müritz, so verschlafen, dass nicht einmal die Touristenströme im Sommer sie wachzurütteln vermögen. Die Geschichte entführte in die Hansezeit, von der die roten backsteinernen Stadttore und Kirchtürme der Gegend zeugen, an denen die Strasse vorbeiführt. Und in die Zeit der mächtigen Gutsherren, die sich kleine Schlösschen gebaut haben und pittoreske Landgüter, die in den vergangenen Jahren sorgfältig saniert und liebevoll wieder eingerichtet wurden. Und so endete die Geschichte mit der Renaissance, welche der schönste Abschnitt dieser Strasse, die Region Mecklenburg-Vorpommern, dank dem Tourismus gerade erlebt.

Wunderschön und absolut stimmig wäre sie, diese kurze Geschichte, doch sie erzählte nur die halbe Wahrheit. Denn die Deutsche Alleenstrasse verbindet zwar den Osten mit dem Westen, das Gestern mit dem Heute, doch wer sie befährt, der bleibt irgendwo zwischen den Himmelsrichtungen und den Zeiten hängen. Ist doch der Schatten der Vergangenheit so lang und dunkel wie derjenige, den die mächtigen Alleebäume kurz vor Sonnenuntergang auf die Rapsfelder neben der Strasse werfen. Die DDR endet nur in den Geschichtsbüchern mit dem Mauerfall vor zwanzig Jahren. Entlang der Deutschen Alleenstrasse sind ihre Spuren und Narben noch deutlich sichtbar. Und so muss, wer die ganze Wahrheit über diese Strasse erfahren will, auch die Menschen kennen lernen, die daran wohnen. Erst die kleinen Geschichten, die sie zu erzählen haben, machen die grosse Geschichte vollständig.

Ihren Anfang nimmt sie in Sellin auf Rügen. An einem Sommermorgen, der die Insel so blank geputzt erstrahlen lässt, als hätte jemand die Farben des berühmten Gemäldes «Kreidefelsen auf Rügen» von Caspar David Friedrich aufgefrischt. Am weissen Sandstrand, wo die Verlängerung der Alleenstrasse in Gedanken in die Ostsee führt und die Strandkörbe noch heute in Reih und Glied dastehen wie sozialistische Soldaten an einer 1. -Mai-Feier. Da hat Klaus Ender, Anfang zwanzig damals und voller Ehrgeiz, seine FKK-Bilder geschossen, die in den Sechzigerjahren im «Magazin» oder im «Eulenspiegel» erschienen sind und noch heute in manchem Partykeller hängen. Regelmässig waren die Hefte am Erscheinungstag schon ausverkauft, denn die nackten Pionierfrauen und hüllenlosen Heldinnen der Arbeit waren für viele DDR-Bürger eine willkommene Flucht aus dem grauen Alltag und die einzige Form von gedruckter Erotik, die das Parteigütesiegel trug.

Die Aktbilder haben den jungen Ender berühmt gemacht, und wer könnte da den alten Ender nicht verstehen, dem es noch immer schwer fällt zu akzeptieren, dass mit der Mauer auch sein Ruhm zu bröckeln begann: «Ich weiss, es ist ein Widerspruch in sich, aber ich war damals freier als jetzt», sagt der 70-jährige Mann, der heute Sujets für Post-karten knipst und im Sucher seiner Nikon das wenige festhält, was von der kleinen Welt auf Rügen, die ihn gross gemacht hatte, übrig geblieben ist: den Strand, die Kreidefelsen und die Alleenstrasse. Ein paarmal ist er auf ihr in den Westen gefahren, so wie viele seiner Zeitgenossen, auf der Suche nach dem Traum der grossen Freiheit. Jedes Mal ist er nach Rügen zurückgekehrt, so wie viele seiner Zeitgenossen. Aus der eigenen Biografie kann man nicht ausziehen wie aus einem Haus.

Und so erzählt diese Geschichte immer wieder von Menschen, deren ganzes Leben neben der Alleenstrasse passiert ist. Im Fall von Gisela Oestereich zwischen Vilmnitz und Lonvits, im Rügener Kreis Putbus. In Lonvits wurde die 73-Jährige geboren, in Vilmnitz hat sie geheiratet. An der Strasse dazwischen hat sie ihre grosse Liebe gefunden und begraben. Zwischen dem ersten Kuss unter einer Krimlinde und dem letzten Liebesdienst auf dem Friedhof liegen eine goldene Hochzeit, zwei Kinder und knapp fünf Kilometer.

«Die Allee», sagt die Frau am Grab, auf dessen Stein «Egon und Gisela Oestereich» steht, «war sozusagen unser Jugendtreff. » Die Büsche zwischen den Linden seien damals so dicht gewesen, dass man darauf habe sitzen können, tagsüber hätten die Mütter darauf einen Schwatz gehalten und abends sich die Dorfjugend auf den grünen Bänken versammelt. Manchmal sei man auch tanzen gegangen, im Gasthof, der selbstverständlich auch an dieser Strasse lag, wie der Laden oder die Schule. Egon sei ein guter Tänzer gewesen. Der beste vielleicht. Sagt die Frau, und: «Alles, wirklich alles in meinem Leben ist an dieser Strasse passiert, da ist es schon richtig, wenn ich selbst einmal an ihrem Rand begraben liege. »

Die Linden und Eichen, die Kastanien und Ahorne, die Obstbäume und Eschen, die die Hauptverbindung  zwischen der Insel und dem Festland säumen, haben viele Menschen kommen und gehen sehen. Sie haben den preussischen Soldaten Schatten gespendet und standen den Nazis Spalier, die in die Sommerfrische fuhren, stumm schauten sie zu, wie die DDR-Schergen die Herren aus ihren Häusern jagten, den Besitz verstaatlichten, und sprachlos verfolgten sie die Tage, in denen die Genossen die Mauer stürmten. So lange stehen sie schon am Strassenrand, dass ihre Kronen mancherorts zusammengewachsen sind zu einem grünen Blätterdach, das leise im Wind sich wiegt und die Sonnenstrahlen bündelt zu kleinen Flecken, die auf dem Asphalt tanzen wie die Lichter einer Spiegelkugel.

Stumme Zeitzeugen, seit Jahrhunderten. Und heute das touristische Kapital dieser Region, die wie unter einer Käseglocke der Zeit entrückt ist. Die Trabis sind zwar aus dem Strassenbild verschwunden, aber die Wende ist in Mecklenburg-Vorpommern weniger ein politischer Terminus, der den Neuanfang markiert, als vielmehr ein Bruch mitten durch die Biografie seiner Bewohner. Und durch die Landschaft, die zwischen den Bäumen aufblitzt: Blumenwiesen, Felder, Wälder, stolze Gutshäuser, die in Hotels verwandelt wurden, idyllisch gelegene Restaurants und mittendrin in der herausgeputzten heilen Touristenwelt ein hässlicher grauer Plattenbau.

Die Geschichte liegt bei der Deutschen Alleenstrasse direkt am Strassenrand. Etwa auf der Strecke zwischen Stralsund und Malchow. Das 18. Jahrhundert neben den 1960er-Jahren, wie in Vollratsruhe, wo ein lieblos hingeklotzter DDR-Wohnsilo die Sicht auf die wenige Meter entfernte prachtvolle Gutsanlage verdeckt. Und während der verwaiste Barockbau einen neuen Besitzer sucht, hängen in der Platte noch immer Spitzenvorhänge an den Fenstern, und Wäsche flattert draussen im Wind.  Burgunde Reinholdt ist 1968 in den Bau gezogen, kaum war er fertig gestellt. Etwas über zwanzig Jahre war sie alt, und den Stolz, damals die nigelnagelneue Wohnung zugeteilt bekommen zu haben, hört man noch heute in ihrer Stimme. Der Mann war Strassenbauer, sie selbst Verkäuferin, und eigentlich, sagt sie, sei inzwischen nicht viel passiert, ausser dass sie eine Wohnung nach links gezogen sei, als die Söhne kamen, und als diese in den Westen zogen, wieder nach rechts. Ach ja, im Laden, wo sie heute arbeite, da sei es auch anders als damals im Konsum, da werde nämlich nicht mehr viel geschwatzt, leider: «Ware ist ja immer genug da, da gibts keinen Grund mehr zum Reden. »

Zwischen der Angst, zu viel zu sagen, und der Angst, nichts zu sagen zu haben, richten sich viele Mecklenburger schweigend ein. Und so muss auch diese Geschichte manchmal mit einem wortkargen Kapitel auskommen. Bernhard etwa zückt sein Sackmesser mitten auf der Strasse, am helllichten Tag, als wir ihn ansprechen. Jede Frage beantwortet er mit einer anderen Frage: «Seid ihr von der Polizei? » oder «Was hab ich jetzt getan? » Und ausser seinem Vornamen will er nur noch verraten, dass er heute unschuldig und früher Genossenschaftsbauer gewesen sei, drüben in Ivenack, und jetzt die Flaschen zurückbringen müsse zu Netto, weil sonst «die Olle» wieder schimpfe.

Still sind die Protagonisten dieser Geschichte, stumm manchmal wie die Bäume. So lange hatten sie nichts zu träumen, dass sie sich das Träumen in diesem Leben nur mehr schwer angewöhnen können. Ausser sie sind jung, wie Martin (19), der die DDR nur noch vom Hörensagen kennt und von einem Leben in Berlin träumt. Oder Sophie (17), die sich zur Pferdepflegerin ausbilden lässt und auf der Alleenstrasse jeden Morgen in ihre Ausbildungsstätte und in die Zukunft fährt.

Die Älteren aber haben sich im Niemandsland zwischen gestern und heute eingerichtet und leben mitten im Idyll, umzingelt von tausend tiefblauen Seen, nicht mehr im Osten und noch nicht im Westen. In Gessin zum Beispiel, einem typischen kleinen Mecklenburger Dörfchen, mit einem Weiher, einer kleinen Kirche, einer Hand voll Häusern. Glatt vergessen würde man das Käffchen, daran vorbeifahren, weil man es auf keiner touristischen Karte findet, hätte es nicht Schlagzeilen gemacht. Weil unter den 75 Menschen, die da leben, einer dem Dorf das Träumen beigebracht hat. Bernd Kleist heisst er, fünfzig Jahre ist er alt und als ehemaliger Lehrer eine Respektsperson im Dorf. Er hat seine Mitbürger davon überzeugen können, sich den Bulldozern in den Weg zu stellen, welche vor ein paar Jahren die Alleebäume fällen wollten, um die Strasse ins Dorf zu verbreitern. «In all den Jahren der Gleichmacherei», erzählt Bernd Kleist, «haben die Menschen verlernt, etwas anzupacken und zu gestalten, sei das ihre Umgebung oder die eigene Biografie. » Der gemeinsame Kampf um die Bäume habe die Bewohner aus einem langen, langen Schlaf zum Leben erweckt. Und der Erfolg beflügelte. Das Dorf hat seine Schönheit entdeckt und machte sich nun mit Eifer daran, auch die Drei-Schwestern-Allee, eine Naturstrasse mit Baumreihen aus seltenen Rubinien und Pappeln am Ausgang des Orts, zu retten. Die Gessiner versammelten sich im Gemeinschaftszentrum des Dorfes, das sie in der Zwischenzeit gebaut hatten, und beschlossen, Drillingsschwestern zu suchen, welche eine Baumpatenschaft für die Allee übernehmen wollten. Sie setzten einen Aufruf auf, schickten diesen an die Presse und fanden so viel Echo, dass das Fernsehen nach Gessin kam, die Drei-Schwestern-Allee neue Bäume erhielt und das kleine Dorf im Niemandsland zwischen Ost und West 2006 den Preis Netzwerk Nachbarschaft.

Gemeinsam sind die Bewohner im Bus nach Berlin gefahren, voller stolz die Alleenstrasse runter, um den Preis entgegenzunehmen. Für manche Gessiner war das die erste Fahrt in den Westen. Für alle aber war es eine Fahrt in eine Zukunft, in der das Träumen wieder dazugehört.

 

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