Nicole Althaus
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Mecklenburg-Vorpommern – Annabelle 14/09
Annabelle 14/09
Text: Nicole Althaus
Fotografien: Anne Gabriel-Jürgens
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«Freie Sicht nach drüben»

In Mecklenburg-Vorpommern ist der Weg das Ziel. Zwanzig Jahre nach der Wende gibt es im neuen Bundesland immer wieder Gründe, die Reise zu unterbrechen. Und ein paar Klischees loszuwerden. Begegnungen auf der Deutschen Alleenstrasse

Das ist die Geschichte einer Strasse, die den Osten mit dem Westen verbindet und das Gestern mit dem Heute. Sie wäre schnell erzählt, folgte man einfach der Strasse, dieser schönsten aller deutschen Strassen, die in Sellin auf Rügen beginnt und vor der Insel Reichenau am Bodensee endet, die über weite Strecken ihrer 2500 Kilometer Länge gesäumt ist mit jahrhundertealten Bäumen und die deshalb seit 1993 als Deutsche Alleenstrasse unter Schutz steht.

Von den romantischen Bädern Rügens wäre in dieser Geschichte zu lesen, von den Seen und Wäldern Mecklenburgs, die so unberührt sind, als hätte Gott sie gestern erst erschaffen. Von Dörfern und Städtchen an der Müritz, so verschlafen, dass nicht einmal die Touristenströme im Sommer sie wachzurütteln vermögen. Die Geschichte entführte in die Hansezeit, von der die roten backsteinernen Stadttore und Kirchtürme der Gegend zeugen, an denen die Strasse vorbeiführt. Und in die Zeit der mächtigen Gutsherren, die sich kleine Schlösschen gebaut haben und pittoreske Landgüter, die in den vergangenen Jahren sorgfältig saniert und liebevoll wieder eingerichtet wurden. Und so endete die Geschichte mit der Renaissance, welche der schönste Abschnitt dieser Strasse, die Region Mecklenburg-Vorpommern, dank dem Tourismus gerade erlebt.

Wunderschön und absolut stimmig wäre sie, diese kurze Geschichte, doch sie erzählte nur die halbe Wahrheit. Denn die Deutsche Alleenstrasse verbindet zwar den Osten mit dem Westen, das Gestern mit dem Heute, doch wer sie befährt, der bleibt irgendwo zwischen den Himmelsrichtungen und den Zeiten hängen. Ist doch der Schatten der Vergangenheit so lang und dunkel wie derjenige, den die mächtigen Alleebäume kurz vor Sonnenuntergang auf die Rapsfelder neben der Strasse werfen. Die DDR endet nur in den Geschichtsbüchern mit dem Mauerfall vor zwanzig Jahren. Entlang der Deutschen Alleenstrasse sind ihre Spuren und Narben noch deutlich sichtbar. Und so muss, wer die ganze Wahrheit über diese Strasse erfahren will, auch die Menschen kennen lernen, die daran wohnen. Erst die kleinen Geschichten, die sie zu erzählen haben, machen die grosse Geschichte vollständig.

Ihren Anfang nimmt sie in Sellin auf Rügen. An einem Sommermorgen, der die Insel so blank geputzt erstrahlen lässt, als hätte jemand die Farben des berühmten Gemäldes «Kreidefelsen auf Rügen» von Caspar David Friedrich aufgefrischt. Am weissen Sandstrand, wo die Verlängerung der Alleenstrasse in Gedanken in die Ostsee führt und die Strandkörbe noch heute in Reih und Glied dastehen wie sozialistische Soldaten an einer 1. -Mai-Feier. Da hat Klaus Ender, Anfang zwanzig damals und voller Ehrgeiz, seine FKK-Bilder geschossen, die in den Sechzigerjahren im «Magazin» oder im «Eulenspiegel» erschienen sind und noch heute in manchem Partykeller hängen. Regelmässig waren die Hefte am Erscheinungstag schon ausverkauft, denn die nackten Pionierfrauen und hüllenlosen Heldinnen der Arbeit waren für viele DDR-Bürger eine willkommene Flucht aus dem grauen Alltag und die einzige Form von gedruckter Erotik, die das Parteigütesiegel trug.

Die Aktbilder haben den jungen Ender berühmt gemacht, und wer könnte da den alten Ender nicht verstehen, dem es noch immer schwer fällt zu akzeptieren, dass mit der Mauer auch sein Ruhm zu bröckeln begann: «Ich weiss, es ist ein Widerspruch in sich, aber ich war damals freier als jetzt», sagt der 70-jährige Mann, der heute Sujets für Post-karten knipst und im Sucher seiner Nikon das wenige festhält, was von der kleinen Welt auf Rügen, die ihn gross gemacht hatte, übrig geblieben ist: den Strand, die Kreidefelsen und die Alleenstrasse. Ein paarmal ist er auf ihr in den Westen gefahren, so wie viele seiner Zeitgenossen, auf der Suche nach dem Traum der grossen Freiheit. Jedes Mal ist er nach Rügen zurückgekehrt, so wie viele seiner Zeitgenossen. Aus der eigenen Biografie kann man nicht ausziehen wie aus einem Haus.

Und so erzählt diese Geschichte immer wieder von Menschen, deren ganzes Leben neben der Alleenstrasse passiert ist. Im Fall von Gisela Oestereich zwischen Vilmnitz und Lonvits, im Rügener Kreis Putbus. In Lonvits wurde die 73-Jährige geboren, in Vilmnitz hat sie geheiratet. An der Strasse dazwischen hat sie ihre grosse Liebe gefunden und begraben. Zwischen dem ersten Kuss unter einer Krimlinde und dem letzten Liebesdienst auf dem Friedhof liegen eine goldene Hochzeit, zwei Kinder und knapp fünf Kilometer.

«Die Allee», sagt die Frau am Grab, auf dessen Stein «Egon und Gisela Oestereich» steht, «war sozusagen unser Jugendtreff. » Die Büsche zwischen den Linden seien damals so dicht gewesen, dass man darauf habe sitzen können, tagsüber hätten die Mütter darauf einen Schwatz gehalten und abends sich die Dorfjugend auf den grünen Bänken versammelt. Manchmal sei man auch tanzen gegangen, im Gasthof, der selbstverständlich auch an dieser Strasse lag, wie der Laden oder die Schule. Egon sei ein guter Tänzer gewesen. Der beste vielleicht. Sagt die Frau, und: «Alles, wirklich alles in meinem Leben ist an dieser Strasse passiert, da ist es schon richtig, wenn ich selbst einmal an ihrem Rand begraben liege. »

Die Linden und Eichen, die Kastanien und Ahorne, die Obstbäume und Eschen, die die Hauptverbindung  zwischen der Insel und dem Festland säumen, haben viele Menschen kommen und gehen sehen. Sie haben den preussischen Soldaten Schatten gespendet und standen den Nazis Spalier, die in die Sommerfrische fuhren, stumm schauten sie zu, wie die DDR-Schergen die Herren aus ihren Häusern jagten, den Besitz verstaatlichten, und sprachlos verfolgten sie die Tage, in denen die Genossen die Mauer stürmten. So lange stehen sie schon am Strassenrand, dass ihre Kronen mancherorts zusammengewachsen sind zu einem grünen Blätterdach, das leise im Wind sich wiegt und die Sonnenstrahlen bündelt zu kleinen Flecken, die auf dem Asphalt tanzen wie die Lichter einer Spiegelkugel.

Stumme Zeitzeugen, seit Jahrhunderten. Und heute das touristische Kapital dieser Region, die wie unter einer Käseglocke der Zeit entrückt ist. Die Trabis sind zwar aus dem Strassenbild verschwunden, aber die Wende ist in Mecklenburg-Vorpommern weniger ein politischer Terminus, der den Neuanfang markiert, als vielmehr ein Bruch mitten durch die Biografie seiner Bewohner. Und durch die Landschaft, die zwischen den Bäumen aufblitzt: Blumenwiesen, Felder, Wälder, stolze Gutshäuser, die in Hotels verwandelt wurden, idyllisch gelegene Restaurants und mittendrin in der herausgeputzten heilen Touristenwelt ein hässlicher grauer Plattenbau.

Die Geschichte liegt bei der Deutschen Alleenstrasse direkt am Strassenrand. Etwa auf der Strecke zwischen Stralsund und Malchow. Das 18. Jahrhundert neben den 1960er-Jahren, wie in Vollratsruhe, wo ein lieblos hingeklotzter DDR-Wohnsilo die Sicht auf die wenige Meter entfernte prachtvolle Gutsanlage verdeckt. Und während der verwaiste Barockbau einen neuen Besitzer sucht, hängen in der Platte noch immer Spitzenvorhänge an den Fenstern, und Wäsche flattert draussen im Wind.  Burgunde Reinholdt ist 1968 in den Bau gezogen, kaum war er fertig gestellt. Etwas über zwanzig Jahre war sie alt, und den Stolz, damals die nigelnagelneue Wohnung zugeteilt bekommen zu haben, hört man noch heute in ihrer Stimme. Der Mann war Strassenbauer, sie selbst Verkäuferin, und eigentlich, sagt sie, sei inzwischen nicht viel passiert, ausser dass sie eine Wohnung nach links gezogen sei, als die Söhne kamen, und als diese in den Westen zogen, wieder nach rechts. Ach ja, im Laden, wo sie heute arbeite, da sei es auch anders als damals im Konsum, da werde nämlich nicht mehr viel geschwatzt, leider: «Ware ist ja immer genug da, da gibts keinen Grund mehr zum Reden. »

Zwischen der Angst, zu viel zu sagen, und der Angst, nichts zu sagen zu haben, richten sich viele Mecklenburger schweigend ein. Und so muss auch diese Geschichte manchmal mit einem wortkargen Kapitel auskommen. Bernhard etwa zückt sein Sackmesser mitten auf der Strasse, am helllichten Tag, als wir ihn ansprechen. Jede Frage beantwortet er mit einer anderen Frage: «Seid ihr von der Polizei? » oder «Was hab ich jetzt getan? » Und ausser seinem Vornamen will er nur noch verraten, dass er heute unschuldig und früher Genossenschaftsbauer gewesen sei, drüben in Ivenack, und jetzt die Flaschen zurückbringen müsse zu Netto, weil sonst «die Olle» wieder schimpfe.

Still sind die Protagonisten dieser Geschichte, stumm manchmal wie die Bäume. So lange hatten sie nichts zu träumen, dass sie sich das Träumen in diesem Leben nur mehr schwer angewöhnen können. Ausser sie sind jung, wie Martin (19), der die DDR nur noch vom Hörensagen kennt und von einem Leben in Berlin träumt. Oder Sophie (17), die sich zur Pferdepflegerin ausbilden lässt und auf der Alleenstrasse jeden Morgen in ihre Ausbildungsstätte und in die Zukunft fährt.

Die Älteren aber haben sich im Niemandsland zwischen gestern und heute eingerichtet und leben mitten im Idyll, umzingelt von tausend tiefblauen Seen, nicht mehr im Osten und noch nicht im Westen. In Gessin zum Beispiel, einem typischen kleinen Mecklenburger Dörfchen, mit einem Weiher, einer kleinen Kirche, einer Hand voll Häusern. Glatt vergessen würde man das Käffchen, daran vorbeifahren, weil man es auf keiner touristischen Karte findet, hätte es nicht Schlagzeilen gemacht. Weil unter den 75 Menschen, die da leben, einer dem Dorf das Träumen beigebracht hat. Bernd Kleist heisst er, fünfzig Jahre ist er alt und als ehemaliger Lehrer eine Respektsperson im Dorf. Er hat seine Mitbürger davon überzeugen können, sich den Bulldozern in den Weg zu stellen, welche vor ein paar Jahren die Alleebäume fällen wollten, um die Strasse ins Dorf zu verbreitern. «In all den Jahren der Gleichmacherei», erzählt Bernd Kleist, «haben die Menschen verlernt, etwas anzupacken und zu gestalten, sei das ihre Umgebung oder die eigene Biografie. » Der gemeinsame Kampf um die Bäume habe die Bewohner aus einem langen, langen Schlaf zum Leben erweckt. Und der Erfolg beflügelte. Das Dorf hat seine Schönheit entdeckt und machte sich nun mit Eifer daran, auch die Drei-Schwestern-Allee, eine Naturstrasse mit Baumreihen aus seltenen Rubinien und Pappeln am Ausgang des Orts, zu retten. Die Gessiner versammelten sich im Gemeinschaftszentrum des Dorfes, das sie in der Zwischenzeit gebaut hatten, und beschlossen, Drillingsschwestern zu suchen, welche eine Baumpatenschaft für die Allee übernehmen wollten. Sie setzten einen Aufruf auf, schickten diesen an die Presse und fanden so viel Echo, dass das Fernsehen nach Gessin kam, die Drei-Schwestern-Allee neue Bäume erhielt und das kleine Dorf im Niemandsland zwischen Ost und West 2006 den Preis Netzwerk Nachbarschaft.

Gemeinsam sind die Bewohner im Bus nach Berlin gefahren, voller stolz die Alleenstrasse runter, um den Preis entgegenzunehmen. Für manche Gessiner war das die erste Fahrt in den Westen. Für alle aber war es eine Fahrt in eine Zukunft, in der das Träumen wieder dazugehört.

 

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