Nicole Althaus
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Wenn Liebe Flickwerk ist – Annabelle 17/2008
Annabelle 17/ 2008
Text: Nicole Althaus,
Illustration: Marcos Chin
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Wenn Liebe Flickwerk ist...

Wer seinen Partner liebt, der liebt auch dessen Kinder. So lautet das Gebot, das die moderne Patchworkfamilie hervorgebracht hat. Doch im Alltag stossen vorab Frauen in der Stiefmutterrolle an ihre emotionalen Grenzen.

An den Abend, an dem ihr klar wurde, dass sie einen Mann wollte und keine Familie, kann sich Annina Waltensberger * noch genau erinnern: «Wir kannten uns ein gutes Jahr und verbrachten die Sommerferien auf einem kleinen Zeltplatz in Italien. Neben uns hatten zwei junge Pärchen ihre Zelte aufgeschlagen, lachten, tranken und festeten bis in den lauen Sommermorgen. Ich sass allein am Campingtisch. Enttäuscht, eifersüchtig und traurig. Den ganzen Tag lang hatte ich mit den Kindern meines Freunds Sandburgen gebaut und Ball gespielt. Nun lagen die achtjährige Sophie * und der vierjährige Till * mit meinem Liebsten auf der Luftmatratze im Zelt. Und statt einem romantischen Abend zu zweit stand mir eine Nacht im Familienlager bevor.» Im Rückblick, sagt Annina Waltensberger, heute 28 Jahre alt, sei ihr klar geworden, dass die ersten Patchworkfamilienferien der Anfang vom Ende der Beziehung gewesen sind.

Zwar ist die Zürcher Texterin über fünf Jahre mit dem um gut zehn Jahre älteren Robert Senger * zusammengeblieben. Aber in dieser Woche am Strand hat sie in konzentrierter Form das erlebt, was die Beziehung auch im Alltag stets belastete: Dass er vor den Kindern nicht richtig zu ihr stehen konnte oder wollte. Dass die heimlichen Zärtlichkeiten ihr manchmal ein Gefühl gaben, als hätte sie eine Affäre mit einem Mann, der eigentlich vergeben ist. Dass die Kinder immer, wirklich immer an erster Stelle standen. Vor allem aber, dass sie anfing, alles aufzurechnen: Zeit, Geld, Zuneigung. «Als ich mich dabei erwischte, wie ich zusammenzählte, was ihn wohl die Geburtstagsgeschenke für die Kinder gekostet hatten und wie viel er bereit war, für meines zu bezahlen, schämte ich mich.» Die junge Frau mit den Sommersprossen senkt noch heute den Blick, wenn sie sich die Eifersucht auf die beiden kleinen Kinder in Erinnerung ruft. Nach der Trennung von Robert hat sie sich in keinen Vater mehr verliebt.

Die Beziehung von Annina und Robert scheiterte an einem Anspruch, den die moderne Patchworkfamilie hervorgebracht hat: Wer seinen Partner liebt, liebt auch dessen Kinder. In der Realität allerdings stellen sich grosse Gefühle für die lieben Kleinen nicht zwangsläufig ein. Der Platz im zusammengewürfelten Familienverbund will hart erkämpft sein. Das müssen viele Frauen und Männer erfahren, die für eine neue Liebe eine soziale Elternschaft übernehmen.

Statistiker schätzen, dass in der Schweiz rund 15 Prozent der Familien Patchworkfamilien sind, in die mindestens ein Partner ein Kind aus einer früheren Beziehung mitgebracht hat. Tendenz steigend. Denn mittlerweile wird hier zu Lande jede zweite Ehe geschieden. Ausserdem leben immer mehr Paare auch mit Kindern unverheiratet zusammen und erscheinen in keiner Statistik, wenn sie sich trennen. In den USA, die ähnlich hohe Scheidungsraten aufweisen, geht man heute davon aus, dass die Hälfte aller Bürgerinnen und Bürger in einer Patchworkfamilie leben oder leben werden.

Patchwork klingt bunt, freundlich und ein wenig nach Hippie-Kommune. Die zusammengewürfelten Familien sind denn auch von Medien und Sachbüchern lange zum kreativen Familienideal der Zukunft, zur Glücksverheissung der Moderne hochstilisiert worden. Neue Studien über die Lebenswirklichkeit in US- oder australischen Stieffamilien haben dieses schönfärberische Bild getrübt und den Terminus Patchwork als das entlarvt, was er in Wirklichkeit ist: ein optimistischer Begriff für einen strapaziösen Kampf um ein Familiengefüge jenseits von Blutsbanden.

«Ich sehe in meinem Klinikalltag viele Familien, die an dieser Herausforderung scheitern», sagt der deutsche Psychotherapeut Gerhard Bliersbach. Er konstatiert in Sachen Forschung einen grossen Handlungsbedarf. Noch gebe es im deutschsprachigen Raum keine einzige Studie, in der die Lebenswirklichkeit in Patchworkfamilien im Zentrum steht. «Wir wissen weder, wie lange sie durchschnittlich halten, noch warum und wo sie gelingen oder scheitern.» In seiner so kritischen wie klugen Analyse «Leben in Patchwork-Familien» beschreibt er die Stieffamilie als «riesiges psychosoziales Experiment».

Einen lebensnahen Eindruck dieses explosiven Experiments bekommt, wer sich ins Internetforum Patchwork-familie.ch einloggt: Nicki 76 fragte im Juli verzweifelt, ob ihre Familie wohl je zusammenwachsen werde. Noch immer zeige ihr Stiefsohn seinen Hass ihr gegenüber offen: «Er sagte zu meinem Freund, dass er mich mit Opas Gewehr erschiessen wolle. Ich muss zugeben, dass ich seinen Hass langsam erwidere.» Delphia sucht Rat, weil «die Ex immer wie ein Schatten im Haus lauert». Und Tina beichtet: «Ich finde seine Kinder nett, aber leider nicht mehr.» Sie fühle sich wie ein Fremdkörper in seiner Familie, und er reagiere auf ihre Probleme mit dem Standardsatz «Die Kinder waren schliesslich schon vor dir da».

Über 1200 Beiträge verzeichnet das Forum zum Thema Stiefkinder, meist stammen sie von Frauen. «Der Bedarf nach Austausch ist gross, bestehende Coaching-Angebote im Rahmen der Eltern- und Erwachsenenbildung gibt es in der Schweiz kaum», konstatiert Anita Huber-Hagmann, Elternberaterin und Moderatorin des Forums. Anfang Sommer hat sie auf Elterncoach.ch deshalb erstmals eine geleitete Gesprächsgruppe für Patchworker ausgeschrieben. Gestartet wurde Ende August in Zürich-Witikon mit einer Frauengruppe. Denn die grösste Reibungsfläche scheint das Kind zu bieten, das der Mann in die Beziehung mitbringt.

«Ich wollte den Mann und nicht sein Kind», sagt Ellen Stetzer * und formuliert damit ganz offen die simple Ausgangslage, die wohl fast alle Patchworker teilen, die wenigsten aber auszusprechen wagen. Die 38-jährige Juristin hat in den drei Jahren, die sie mit ihrem 44-jährigen Partner Peter Rommer * zusammen ist, zwar auch eine Beziehung zu seinem Sohn, dem 15-jährigen Oliver *, aufgebaut und hegt heute sogar «mütterliche Gefühle» für den Pubertierenden. Trotzdem: Der Nachwuchs belastet die Partnerschaft. «Unsere Familie», erzählt Ellen Stetzer, «geht immer noch so: Peter und Oliver, erst dann ich.» Daran habe auch nichts geändert, dass sie dem Sohn monatelang Nachhilfeunterricht gegeben, ihn bekocht habe und mit ihm einkaufen gegangen sei. «Ich habe von Anfang an die Mutterpflichten übernommen, aber bis heute nicht die Privilegien einer Mutter bekommen. Wann immer ich den Sohn zurechtgewiesen habe, hat mein Partner mir klar gemacht, dass ich nicht erziehungsberechtigt bin.» Er selber lasse Oliver einfach gewähren. Wolle er Party, gebe es Party. Seine Wünsche seien Befehl. Darunter litten die Schulnoten ebenso wie der Familienfrieden. Noch heute, sagt die Frau, ohne ihre Ernüchterung zu verbergen, sei jedes Gespräch über den Sohn ein Minenfeld.

Ellen Stetzer ist zwar immer noch verliebt, aber nicht mehr «blauäugig», wie sie betont. Sie wünscht sich ein eigenes Kind, aber an Heirat denkt sie nicht mehr: «Ich lebe gern mit meinem Partner zusammen und sehe auch eine gemeinsame Zukunft. Werde ich aber Mutter, will ich das Sorgerecht für das Kind alleine. Peters Vaterkompetenzen haben mich nicht gerade beeindruckt.»

Erst zu zweit, dann zu dritt – diese Abfolge gilt in der Liebe mit Anhang nicht. Vielmehr gilt es, ein Liebespaar zu sein und zugleich ein Familienleben zu führen. Das hat seine Tücken, verläuft doch die Beziehungsgeschichte des Paars zum Kind asymmetrisch. Der leibliche Elternteil hat seine Rolle längst eingenommen, der Stiefelternteil muss die seine erst finden. Zeit, die Verliebtheit auszukosten, sich als Paar zusammenzuraufen und über Aufgaben zu verhandeln, bleibt in der Instantfamilie kaum.

Darunter leiden vorab Stiefmütter. Und das, obwohl sie sehr viel seltener mit den Kindern ihres Partners zusammenleben als die Patchworkväter, da der Nachwuchs nach einer Scheidung meist in der Obhut der Mutter bleibt. «Die Rolle der Stiefmutter ist gesellschaftlich sehr viel stärker besetzt als die des Stiefvaters», sagt Andrea Maihofer, Professorin am Basler Zentrum für Geschlechterforschung. Von den Stiefmüttern werde ein grösserer emotionaler Einsatz erwartet. Zudem setzten sie sich auch selbst mehr unter Druck als Stiefväter.

Bereits die ersten US-Studien aus den Neunzigerjahren deckten auf, dass die Patchworkfamilie als Rollenfalle fungieren kann: Sie drängt auch kinderlose Frauen in die Mutterrolle. Kinderaufzucht lastet nach wie vor auf weiblichen Schultern. Vorab Stiefmütter bekunden denn auch Schwierigkeiten, den Nachwuchs des neuen Partners zu akzeptieren. Das belegt die Studie «Scheidungsfolgen» von Judith Wallerstein, die 2003 auf Deutsch in Buchform erschienen und in ihrer Anlage einmalig ist, weil sie Scheidungsfamilien während 25 Jahren begleitet hat: Die befragten Stiefmütter gaben häufig zu Protokoll, dass sie die Kinder des Mannes als «Eindringlinge» empfinden und sich schwer damit tun, sie zu lieben. Stiefväter hingegen äusserten sich weniger problematisch über ihren Gefühlshaushalt und können sich im neuen Familiengefüge besser einrichten.

David Brenner * beispielsweise sieht durchaus auch Vorteile im System Patchwork: «Ich lebe in einer Familie, habe aber keine. So kann ich die Vater-Rolle ausleben, ohne mit der dazugehörigen Verbindlichkeit belastet zu sein.» Der 44-jährige Grafiker schätzt die Instantfamilie als Gegenentwurf zum bürgerlichen Lebenslauf, aber auch er ist weit davon entfernt, das Modell Patchwork zu idealisieren: «Damit dieses Familienmodell gelingen kann, braucht es eine unglaubliche Kommunikationsleistung und sehr viel Sorgfalt und Einfühlungsvermögen von allen Seiten.» Mit der neuen Partnerin habe er Probleme bisher immer bereden können, sie habe ihn sehr behutsam in die Familie eingeführt, und auch zu ihrem siebenjährigen Sohn habe er in den letzten zwei Jahren eine schöne Beziehung aufbauen können. «Da wächst eine Liebe», sagt David Brenner. Er ist der einzige für diesen Artikel interviewte Patchworker, der dieses grosse Wort in den Mund nimmt.

Doch er fügt auch gleich an, dass zu einer Patchworkfamilie eben immer auch die Menschen gehörten, die man nicht ausgewählt habe – in seinem Fall der Ex-Partner mit seiner neuen Freundin. «Am schwierigsten finde ich, dass plötzlich vier Leute mitbestimmen, wie mein Leben verläuft, wann ich Ferien mache, wo und wie Geburtstage gefeiert werden, wann ich meine Partnerin allein sehen kann.» Überhaupt, sagt David Brenner, der Vater des Kindes sei sein ständiger Begleiter, ob er das wolle oder nicht. An ihm werde er gemessen. Und selbst wenn dieser ihn als Freiberufler beschimpfe, der von seinen Alimentenzahlungen profitiere, könne er die Beziehung zu ihm nicht kündigen.

Genau darin liegt, so Gerhard Bliersbach, der Sprengstoff der Patchworkfamilie: «Die leibliche Mutter, der leibliche Vater sind immer die unsichtbar anwesenden Dritten.» Vorab die Kinder tun sich schwer damit, den neuen Partnern ihrer Eltern eine passende Rolle zu geben. Bezeichnenderweise gibt es auch keinen Namen dafür. Es sind nicht richtige Stiefmütter oder -väter, nicht Onkel und Tanten und auch keine Freunde. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kinder Angst haben, den verlassenen Elternteil zu verraten, wenn sie eine gute Beziehung zur neuen Bezugsperson haben. Noch Jahre nach der Trennung der Eltern, schreibt Gerhard Ahmend in seinem 2006 überarbeiteten Buch zur Scheidungsväterstudie, hegten Kinder den Wunsch, die Ursprungsfamilie wieder zusammenzubringen.

Dass Ehepaare zwar geschieden werden können, nicht aber Elternpaare total getrennt, hat auch Annina Waltensberger täglich erfahren: «Die Ex meines Freundes hat ihm verboten, die Kinder im Auto mitfahren zu lassen, wenn ich am Steuer sitze. Sie hat diktiert, wann und wie lange Sophie und Till in unserer Wohnung sein dürfen. Sie hat vorgeschrieben, was die Kinder mir erzählen dürfen und was nicht. Und an den Besuchstagen hat sie uns mit Anrufen terrorisiert.»

Die abwesende Mutter hat nicht nur den Alltag mitkontrolliert, die zerbrochene Kernfamilie hat auch Annina Waltensbergers Zukunftspläne zunichte gemacht: «Ich hätte gern eigene Kinder», sagt sie, «mit Robert wäre das schon aus finanziellen Gründen nicht in Frage gekommen. Nach den Alimentenzahlungen blieb ihm gerade noch genug zum Leben. Auch seine Zeit wäre wohl für eine zweite Familie zu knapp geworden.» Als allein erziehende Mutter aber konnte und wollte die junge Frau sich nicht vorstellen. Nachdenklich fügt sie an: «Robert hat all das, was ich gern mit ihm geteilt hätte, schon mit seiner Ex-Partnerin erlebt: Schwangerschaft, Geburt, das erste Kinderlachen. Diesen Gedanken habe ich manchmal fast nicht ertragen.»

Als ob die Gegenwart nicht schon kompliziert genug wäre, wirft die Patchworkkonstellation oft auch einen dunklen Schatten auf die Zukunft. Wer mit der neuen Partnerin, dem neuen Partner auch eigene Kinder haben will, muss über ein grosses Einkommen verfügen. Sonst lässt das Familienbudget wegen der Alimentenzahlungen kaum Spielraum für Zukunftspläne. Finanzielle und rechtliche Probleme gehören neben den Stiefkindern denn auch zu den meistdiskutierten Themen in den Patchworkforen. Doch statistisch gesicherte Erkenntnisse darüber, wie Zweitfamilien finanziell dastehen, wie lange sie halten und mit welchen rechtlichen Problemen sie kämpfen, existieren im deutschen Sprachraum nicht. Aus den USA weiss man immerhin, dass die Trennungsraten in Patchworkfamilien noch höher sind als in Erst-Ehen. Und dass die grössten Schwierigkeiten dann entstehen, wenn Trennungskonflikte in das neue Gefüge hineingetragen werden.

Trotzdem: Patchworkfamilien werden bald einmal das verbreitetste Familienmodell darstellen. Deshalb, sagt Genderforscherin Andrea Maihofer, bringe es nichts, der Kernfamilie nachzutrauern. Wichtig sei vielmehr zu akzeptieren, dass neue Familienformen neue Chancen und Möglichkeiten, aber auch neue Ängste und Unsicherheiten schafften. Und von allen Beteiligten neue Kompetenzen verlangten. Oder mit anderen Worten: Auch Patchwork will gelernt sein.

Pflichten statt Rechte

l Trotz der Allgegenwart der Patchworkfamilie verweist das Schweizer Gesetz die Stiefeltern in unserer Gesellschaft klar auf die hinteren Ränge. Stiefeltern haben zwar Pflichten, aber kaum Rechte: So stehen verheiratete Patchworkväter und -mütter in der Unterhaltspflicht für die Kinder des Partners, bei einer Scheidung aber garantiert ihnen das Gesetz nicht einmal ein Besuchsrecht. Auch im Todesfall des Partners laufen Patchworkeltern Gefahr, den Kontakt zum Kind zu verlieren, für das sie gesorgt haben. Das Sorgerecht geht im Normalfall zurück an den verbleibenden leiblichen Elternteil.

l Im Erbrecht sind Stiefeltern und Stiefkinder ebenfalls benachteiligt: Sie sind gegenseitig nicht direkt erbberechtigt, da sie als nicht miteinander verwandt gelten. Will ein Stiefvater, dass die Tochter seiner Partnerin, die er hat aufwachsen sehen, etwas erbt, muss er das testamentarisch festhalten.

l Die einzige Möglichkeit, die Patchworkfamilie einer Kernfamilie rechtlich gleichzustellen, ist die Adoption. Damit erhalten Stiefmütter und -väter neben den elterlichen Pflichten auch die elterlichen Rechte. buchtipps Moderne Familienformen. Navigationshilfe für Alleinerziehende und Patchwork-Familien. Von Barbara Link. Humboldt-Verlag, Hannover 2008, 160 Seiten, 16.90 Franken Leben in Patchwork-Familien. Halbschwestern, Stiefväter und wer sonst noch dazugehört. Von Gerhard Bliersbach. Psychosozial-Verlag, Giessen 2007, 200 Seiten, 35.90 Franken Infos

www.Patchwork-Familie.ch

www.elterncoach.ch