Nicole Althaus
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Beichte – Herr, Vergib mir! – FACTS 26. Mai 2005
FACTS 21/2005
Text: Nicole Althaus
Fotos: Christophe Chammartin
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«Herr, vergib mir!»

Herr, vergib mir!

Weshalb soll man seine Sünden ein Leben lang mit sich herumtragen, wenn es auch ganz anders geht? Ein längst fälliges Plädoyer für die Beichte.

Ach Gott, wie beschwerlich der Weg doch ist! Auch wenn es nur 30 Meter sind und 18 Treppentritte, die vom Café, in dem die Sünderin eben noch sass, zum Portal der Kirche hochführen. Sie muss fast klettern, so steil sind die Stufen, und wie Mahnfinger wachsen die beiden barocken Türme über ihr in den Himmel. Sein Blau ist unerträglich rein. Die Glocken schlagen fünf. Zeit für die Beichte.

Sie kann sich kaum noch erinnern, wann sie zum letzten Mal ein Geständnis ablegte. Ihre Welt muss damals noch so klein gewesen sein, dass es nichts darin gab, das den Namen «Sünde» verdiente. Sie ist in der Innerschweiz aufgewachsen, in einem Dorf, in dem selbst Kuh, Hund und Katze katholisch waren. Ein einziger Schulkamerad durfte nicht zum Religionsunterricht. Er war reformiert und tat allen Leid. Einmal, dass weiss sie noch, musste sie in die Ecke stehen, weil sie Christkind mit K geschrieben hatte.

Aber seither ist einiges passiert. Die Sünderin hat geheiratet, ohne Gottes Segen. Sie hat zwei Kinder geboren, beide sind ungetauft. Sie lebt in einer Stadt, in der man mit zwei Kindern vom selben Mann schon fast als Langweilerin gilt. Und in einer Zeit, in der das, was früher einem Beichtvater zugeflüstert wurde, in Nachmittags-Talkshows verhandelt wird.

Schwer fällt das Tor der Stiftskirche hinter ihr ins Schloss. Dunkel. Ein Katholik bereut seine Sünden, trägt sie vor Gott in die Kirche, und daselbst werden sie ihm vergeben. So steht es in der Pastoralordnung. Der Katholik kniet auf das blank gescheuerte Holzbänkchen eines Beichtstuhls und flüstert in der Dunkelheit seine Verfehlungen dem Gottesmann hinterm Holzgitter ins Ohr, und dann wird er von ihnen losgesprochen. So hat es Jesus seinen Jüngern im Johannes-Evangelium aufgetragen: «Wem ihr die Sünde vergebt, dem sind sie vergeben. » Und so hat die Sünderin es gelernt - als achtjähriges Kind vor der Erstkommunion.

Aber im Jahre des Herrn 2005, an einem sonnigen Maitag in Einsiedeln, bleiben die meisten Missetaten in den Köpfen der Menschen gefangen, die Kinderwagen über den gepflasterten Klosterplatz schieben oder im Café sitzen und Erdbeerkuchen essen. Sie bleiben auch gefangen in den Köpfen der Freunde und Bekannten der Sünderin, egal, ob diese mit oder ohne Gott leben. Ein Stossgebet zum Himmel schicken einige in schweren Zeiten, aber keiner und keinem kommt es noch in den Sinn, sein Gewissen in der Kirche zu erleichtern.

Gott, so scheint es, ist entweder tot oder aber ein geduldiger Kumpel, den man ab und zu anruft - gerade wie einem danach ist. Sogar die Wallfahrer, die gekommen sind, um vor der schwarzen Madonna in die Knie zu gehen, verlassen die Kirche ohne Absolution.

Die Sünderin bekreuzigt sich, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Das verlernt ein Katholik, auch ein abtrünniger, nie. Es ist finster im Kircheninnern, kalt. Die marmornen Säulen werfen im flackernden Kerzenlicht nervöse Schatten über die Bankreihen und über die Busladung von Frauen und Männern, die darin sitzen. In der Luft Wortfetzen, der süsse Geruch von Weihrauch. Eine Holztür trennt die karge Beichtkapelle von der Pracht des Hauptschiffs, über dem Eingang steht «Empfanget den Heiligen Geist». Drinnen ist es totenstill. Eine einzige Frau sitzt auf einem der Stühle, bucklig und in s ich gekehrt, den Rosenkranz in der gichtgezeichneten Hand. Alle andern Besucher machen auf dem Absatz kehrt, sobald sie die Beichtstühle erblicken. Als verstecke sich der Leibhaftige hinter den schweren roten Samtvorhängen, fliehen sie nach draussen.

Die Gewissensforschung

Ein einziger Beichtstuhl ist besetzt. Das Lämpchen leuchtet rot, darunter steht «Deutsch». Gottes Ohr ist mehrsprachig. In anderen Stühlen kann man sich auf Französisch, Englisch, Italienisch erleichtern. Die Sünderin setzt sich und wartet. Ihre Hände sind kalt und feucht. Einen Augenblick lang wünscht sie sich, Chinesisch zu sprechen.  Dabei hat sie sich vor einer Stunde im Café alles zurechtgelegt. Während draussen die barocke Sandsteinfassade in regelmässigen Abständen eine Gruppe von Pilgern verschluckte und wieder ausspuckte, hat die Sünderin den Beichtspiegel gelesen, zur Gewissensforschung. Erstes Gebot: Habe ich das Morgen-, Abend- und Tischgebet verrichtet? Drittes Gebot: Habe ich an Sonn- und Feiertagen knechtliche Arbeit verrichtet? Viertes Gebot: Habe ich für die religiöse Erziehung meiner Kinder pflichtgemäss gesorgt? Sechstes und neuntes Gebot: Habe ich gesündigt durch unkeusche Gedanken, unkeusche Blicke, unkeusche Berührungen (an mir oder an jemand anderem)?

Die Sünderin hat gegen die meisten Gebote verstossen und allen sieben Lastern gefrönt, denen ein Christenmensch frönen kann: Sie war eitel, habgierig, neidisch, unmässig, wollüstig, zornig und träge. Sie hat mehr als genug zu beichten, vor allem aber ein schlechtes Gewissen, weil sie kurz davor steht, ein heiliges Sakrament zu entweihen, um später darüber zu schreiben. Kann man, überlegt sich die Sünderin, zwar den Glauben verlieren, nicht aber die katholische Erziehung?

Gemurmel aus dem Beichtstuhl. Wenn ich ans linke Ende der Stuhlreihe rutsche, könnte ich vielleicht etwas verstehen, denkt sie. Und muss schmunzeln, weil sie die Sünden der anderen schon bei der ersten Beichte, als achtjähriges Mädchen, interessanter fand als die eigenen. Selbstverständlich tut sie es nicht. Und auch damals war sie viel zu sehr damit beschäftigt, die eigenen Verfehlungen im Kopf hin- und herzuschieben, wie Puzzleteile zum perfekten Bekenntnis: Vor Gott dem Allmächtigen und Ihnen, Herr Pfarrer, an Gottes statt bekenne ich meine Sünden. Ich war ungehorsam, ich habe geflucht, und ich habe der Mutter das Geschirr nicht abgetrocknet. So hatte sie gebeichtet, vor bald 30 Jahren. Und als der Pfarrer nichts sagte, kramte sie aus ihrer kleinen Kinderseele noch zweierlei: den Osterhasen, den sie ihrer Schwester weggegessen, und den Fingerring, den sie in der Turnhalle gefunden und eingesteckt hatte, obwohl sie genau wusste, wem er gehörte.

Das Lämpchen am Beichtstuhl springt auf Grün. Ein Mann Mitte vierzig kommt heraus, er lächelt der Sünderin aufmunternd zu und kniet sich betend nieder. Sie steht auf, schlägt den schweren Vorhang zurück und erschrickt: eine graue Tür. Die altehrwürdigen, handgeschnitzten Beichtstühle sind nur mehr eine Atrappe, hinter der sich eine moderne Beichtzelle versteckt, klein und eng. Nicht ein einziger Schatten. Im erbarmungslosen Neonlicht: die violette Stola des Paters, seine Brille, die wohl schon aus der Mode war, als er sie verschrieben bekommen hatte, sein schütteres graues Haar, der Schalter für das Lämpchen draussen, den der Pater jetzt nach oben kippt.

Puzzleteile zum perfekten Bekenntnis

«Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes», sagt der Pater. «Amen», sagt die Sünderin. Sie hat Dunkelheit erwartet, ein schemenhaftes Gottesohr, Anonymität. Stattdessen sitzt sie jetzt in einer Zelle, die an die Kabinen im Flughafen erinnern, in denen verdächtige Passanten sich ausziehen müssen. Ein Seelenstrip, denkt die Sünderin, und sucht in ihrem Kopf nach den Puzzleteilen zum perfekten Bekenntnis. Vergebens.

«Vater, ich habe gesündigt! Ich war schon so lange nicht mehr bei der Beichte, dass ich gar nicht weiss, wo ich anfangen soll. » Der Pater lächelt. «Wie lange ist es denn her? »

«30 Jahre, fast. » Der Pater lächelt nicht mehr. «Irgendwo, fangen Sie einfach irgendwo an. »

«Vater, ich war ungerecht und aufbrausend - gegenüber meinem Partner, meinen Kindern, meinen Eltern, meiner Schwester. »

Der Pater sagt nichts.

«Vater, ich war eitel und frönte dem Luxus. Viele Schuhe habe ich gekauft und Kleider. Prada, MiuMiu, Jil Sander. Und ich hab auch mal was mitgehen lassen. »

Der Pater sagt wieder nichts.

«Vater, meine Kinder, sie wissen nicht wie man sich bekreuzigt, sie kennen Gott nur von der Krippe, sie sind beide ungetauft. »

Der Pater schweigt immer noch. Die Unterarme auf den Knien, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet; sie sind gross und schmal. So lange schweigt der Pater, dass die Sünderin meint, er habe sie vergessen. Ein billiger Psychotrick? Oder ahnt der Pater, dass sie keine Absolution sucht, sondern eine Geschichte? Da hebt dieser den Kopf und schaut sie an: «Die Kinder», fragt er, «sind sie von Ihrem Mann? »

«Ja», sagt die Sünderin, «beide. »

«Ich meine», sagt der Pater «sind Sie verheiratet? »

«Ja. Das heisst, nein. Nur standesamtlich», sagt die Sünderin. «Aber ich spiele mit dem Gedanken, die Kinder taufen zu lassen. Allerdings bin ich ein schlechtes Vorbild, im religiösen Sinn, meine ich. Manchmal auch sonst. »

Der Pater sagt: «Das sind wir mit unter alle. » Und auch, dass unser Glaube gerade deshalb ein so wunderbarer Glaube sei, da Gott jedem Menschen verzeihe und alle mit offenen Armen empfange. Ob sie denn sonntags zur Kirche gehe, ab und zu?

Die Sünderin schaut auf ihre Fingernägel: «Selten. » Dann korrigiert sie sich: «Wenn ich muss, zu Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. »

Der Pater lehnt sich zurück und sagt mit sanfter Stimme: «Das wäre doch ein Anfang. »

«Vater, ich finde es schwer in der katholischen Kirche als Frau. Ich meine, ich will kein drittes Kind, also schlucke ich die Pille. »

Der Pater schaut auf seine gefalteten Hände, er sagt, dass die Kirche Verhütungsmittel nicht verbiete, um es den Frauen schwer zu machen, dass sie gute Gründe dafür habe. Und: «Sie dürfen verhüten, auf natürliche Weise, Sie wissen schon. » Er blickt die Sünderin an, als bitte er sie, nicht mehr allzu viel zu beichten. Dann entfaltet er seine langen schönen Finger und legt die Hände flach auf den Holztresen, der den Pönitenten, den Sünder, vom Gottesmann trennt. «Das Leben als Christ», sagt er mit Nachdruck und schaut der Sünderin lange in die Augen, «ist kein Gang durch einen Vergnügungspark! »

Die Sünderin rutscht auf dem Stuhl hin und her, wie damals als Kind, wenn sie beim Lügen ertappt wurde.

Aus dem Experiment ist Ernst geworden.

Die Sünderin spricht.

Der Pater hört zu.

Die Busse ist Verhandlungssache

Sie gesteht ihm Dinge, die sie keinem je erzählt hat, nicht einmal der Freundin aus der Stadt, mit der sie ihre Schuhe kauft. Und der Pater hört so lange zu, bis die Sünderin nichts mehr zu sagen weiss. Dann blättert er in seinem kleinen Notizbuch und zitiert den Kirchenvater Thomas von Aquin. Zum Schluss fragt er: «Welche Busse können Sie anbieten? Die Sünderin ist erstaunt. Dass die Busse Verhandlungssache ist, hat sie nicht in Erinnerung. Sie zuckt bloss mit den Schultern.

«Dann beten Sie fünf Vaterunser und fünf Ave Maria. Das Ave Maria kennen Sie noch, oder? »

Die Sünderin lächelt, sie nickt.

Jetzt lächelt auch der Pater, breitet seine Arme aus und spricht: «Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. »

«Amen», sagt die Sünderin, steht auf und öffnet die Tür.

«Bhüet Sie Gott», hört sie den Pater noch sagen. Eine Viertelstunde - und ihr dreissigjähriges Sündenregister ist gelöscht. Sie kniet sich in eine Kirchenbank, betet die fünf Vaterunser, ein paar Ave Maria - bis zur Hälfte etwa, so weit sie das Gebet noch auswendig weiss. Dann verlässt sie die Kirche. Der Himmel ist immer noch blau, aber er beschämt sie nicht mehr. Sie springt die Treppe runter, zwei Tritte aufs Mal. Auf dem untersten nimmt sie sich vor, Busse zu tun, eine selbst auferlegte: Irgendwann wird die Sünderin noch einmal herkommen, nach Einsiedeln, um diese Beichte zu beichten.


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