Nicole Althaus
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Island – Annabelle 8/04
Annabelle 8/04 
Text: Nicole Althaus
Fotos: Rita Palanikumar
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«Island: Elfen und Trolle»

Elfen und Trolle haben in keinem anderen Land so viele Rechte wie auf Island. Die Insulaner nehmen ihre unsichtbaren Mitbewohner ernst. Und nach ein paar weissen Nächten auf der Insel sieht man tatsächlich mehr, als man glauben will.

Erla konnte weder lesen noch schreiben, als sie merkte, dass die Menschen, die sie liebte, blind waren. Sie feierte ihren fünften Geburtstag damals und trug ihr Sonntagskleidchen. Der Tisch war festlich gedeckt. Die ganze Familie hatte sich darum versammelt, und die Mutter wollte eben den Kuchen anschneiden. Da rief Erla: «Mama, da fehlen noch zwei Teller! » - «Ach wo, mein Schatz», sagte die Mutter, «guck doch, es haben ja alle einen. » Draussen streckte der Vulkan Snæfellsjökull seine schwarzen Klauen nach dem Dorf. Vielleicht kroch der Nebel von der Gletscherkuppe des Bergs runter, und jener sonderbare Silberglanz lag auf dem kleinen Fluss, der sich vom Berg weg zum Meer schlängelt. So genau weiss Erla Stèfansdóttir das 55 Jahre später nicht mehr. Aber sie erinnert sich noch genau an den Moment, in dem ihr bewusst wurde, dass ihre Mutter die beiden Elfen am Tisch nicht einfach übersehen hatte, sondern sie wirklich nicht sehen konnte. Und sie ver stand plötzlich, warum die Menschen immer von Hulduvolk, von verborgenen Leuten, sprachen, wenn sie sich Geschichten über Elfen und Trolle erzählten. Fortan lebte Erla in zwei Welten: in der wunderbar bunten Welt, die sie sah, und in der viel kleineren Welt, die auch die anderen sehen konnten. Über die Blindheit ihrer Mitmenschen wundert sich Erla Stèfansdóttir immer noch. Aber heute hat sie sich in dieser kleinen Welt gut eingerichtet. Sie lebt in Reykjavik, wie drei Viertel aller Isländerinnen und Isländer auch. Erla Stèfansdóttir ist die Elfenbeauftragte der Hauptstadt. Eine nationale Prominente sozusagen. Die Insulaner rufen bei ihr an, wenn sie nicht sicher sind, ob im Zimmer, das so lange leer gestanden hat, eine Elfe haust. Oder ob einige in dem alten Schopf leben, den sie abreissen wollen. Dann gibt Erla Stèfansdóttir mit ihrer dunklen trägen Stimme telefonisch Tipps, wie das Haus umgebaut werden kann, ohne die unsichtbaren Untermieter zu erzürnen. Oder sie kommt persönlich vorbei und bittet das Hulduvolk, das Zimmer zu räumen.

Selbst die Behörden lassen sich von der Elfenexpertin coachen. Erst kürzlich hat man Erla Stèfansdóttir als Fachfrau beigezogen. Als beim Bau einer neuen Strasse ausserhalb Reykjaviks ein Bulldozer nach dem anderen den Geist aufgab. Die mysteriösen Vorfälle passierten immer an derselben Stelle, in der Nähe eines grossen Lavabrockens. Die Bauarbeiten standen still. Bis Erla Stèfansdóttir kam und mit den Elfen verhandelte, die den Stein bewohnten. Danach konnte die Strasse termingerecht und ohne weitere Störungen fertig gestellt werden. Wenn auch mit einem grossen Bogen um die Elfenbehausung herum. Auf der Insel unterhalb des Polarkreises leben 280 000 sichtbare und zwischen 3000 und 20 000 unsichtbare Einwohner. Und weil für gut die Hälfte der Isländer ein unsichtbarer Troll ebenso real ist wie der nette Nachbar, nimmt man auf die verborgene Minderheit im Land Rücksicht. Das tut übrigens auch die andere Hälfte der Isländer, die an der Existenz des Hulduvolks zweifelt. Denn in einem ist sich die Nation einig: Nur weil man ein Wesen nicht sehen oder hören kann, heisst das noch lange nicht, dass es nicht existiert. Und nur weil man Elfenbehausungen grossräumig umfährt, ist man noch lange nicht zurückgeblieben. Schliesslich führt Island die Weltrangliste nicht nur in Sachen Geisterglauben an, sondern auch bei der Anzahl der Internetanschlüsse und Handys pro Kopf. Ein Widerspruch, könnte man meinen. Doch mit mitteleuropäischer Logik kommt man nicht weit auf dieser Insel. Die Insel ist für den nicht isländischen Verstand eine Zumutung und für das nicht isländische Auge ein Rätsel: Es gibt sie nur, weil unter dem Polarkreis ein monumentaler Graben die Erde zerreisst und die tektonischen Platten der Alten und der Neuen Welt auseinander driften. Brodelndes Magma hat sie geschaffen, das Gletschereis hat sie geprägt. Da leckt nun kokett die Meeresgischt an der Zunge des grössten Gletschers Europas, und weisse Eisberge schwimmen vor dem schwarzen Lavastrand, da donnern Wasserfälle mitten aus der grünen Heide in die Tiefe, und kochende Fontänen springen in den Himmel. Und manchmal kann man zuschauen, wie es auf der einen Strassenseite regnet, während auf der anderen die Sonne scheint.

Magnús Skarphédinsson steht, das Handy am Ohr, vor dem Elfenfelsen, der die Regierung so viele Bulldozer gekostet hat. Seit zwanzig Jahren sucht der 45-jährige Historiker die Orte auf, an denen Elfen und Trolle gesichtet wurden, und sammelt die Geschichten der Begegnungen. «Eben hat mich jemand zu sich nach Hause bestellt, weil er im Fluss vor seinem Haus einem Monster begegnet sei», sagt Magnús Skarphédinsson und lacht, «als ob man mir jeden Bären aufbinden könnte, nur weil ich überzeugt bin, dass es wirklich Menschen gibt, die Elfen und Trolle sehen. »

Auch der Historiker gehört zur nationalen Prominenz, seit er in der Hauptstadt die Elfenschule betreibt, in der man sich in Sachen Unsichtbare weiterbilden kann. Da erfährt man zum Beispiel, dass es 13 verschiedene Arten von Elfen gibt, dass Trolle die Grösse eines zweijährigen Kindes haben und auch mal launisch sein können. Und dass man den Unsichtbaren vor allem auf dem Land begegnet, dort, wo die Strassen unwegsam werden und die Häuser selten. «Ich bin Wissenschaftler», sagt Magnús Skarphédinsson, «und ich weiss, dass man den Volksglauben Islands durchaus mit der Isolation der Insel in der Vergangenheit erklären kann. Auch ich habe das Hulduvolk nie gesehen. Aber wer bin ich denn, seine Existenz auszuschliessen, nur weil ich selbst blind dafür bin? »

Der Nebel zieht in feuchten Schwaden über die Heide. Es ist kalt und windig. Immer wieder reisst der Himmel auf, und die Sonne zündet ein Stück Landschaft an. Johanna Sigridur Hannesdóttir steigt vom Velo und zeigt auf einen kleinen Hügel. Er liegt auf dem Farmland ihrer Grossmutter, inmitten des fruchtbaren Stierflusstals, im Südwesten der Insel. Rundherum ist das Gras gemäht, nur auf dem Erdbuckel spriesst sattes Grün.

Ein halbes Jahrhundert lang hat niemand den Hügel betreten. Seit dem Tag, an dem Johannas Grossmutter von einem Troll heimgesucht wurde. Sie war damals schwanger mit ihrer ersten Tochter, Johannas Mutter, und setzte sich auf den Erdbuckel, erschöpft vom Mähen. Da sass plötzlich ein Troll neben ihr und warnte sie, der Hügel sei mit einem Bann belegt, der jeden treffe, der ihn betrete oder auf ihm das Gras schneide. Johanna Sigridur Hannesdóttir schaudert noch heute, wenn sie diese Geschichte erzählt, die sie durch ihre Kindheit begleitet hat. Ihre Haut, die so weiss und durchscheinend nur ein neunmonatiger Winter hervorbringen kann, wird noch etwas bleicher. «Der zweite Mann meiner Grossmutter», sagt sie, «hat den Bann umgehen wollen und auf dem Hügel das Gras eingeholt, ohne ihn zu betreten. Seither sterben die Männer in der Familie früh. » Die eisblauen Augen der Zwanzigjährigen blicken einen Moment lang düster und lassen keinen Zweifel daran, dass sie nichts hält vom Versuch ihres Stiefgrossvaters, den Fluch der Unsichtbaren herauszufordern. Niemals und unter keinen Umständen, sagt sie, werde sie den Hügel betreten. Und erzählt dann von ihren Plänen: Dass sie nächstes Jahr nach Reykjavik ziehen wird, weil dort die Zukunft liegt. Sie schreibt zwei Handynummern und eine Internetadresse auf einen Zettel und fährt davon. Der Wind peitscht das lange Gras auf dem kleinen Hügel zu Boden. Einen Moment lang sieht es aus wie frisch geschnitten.

Es ist Mitternacht. Der Tag hängt am Himmel, als hätte jemand vergessen, das Licht auszuknipsen. Verloren liegt das Tal im fahlen Sonnenschein. Kein Mensch mehr. Seit Stunden. Nur der eigene Schatten, der wächst und wächst. Ab und zu ein Wegweiser zu einem Haus, das man erst sieht, wenn man davorsteht, weil es sich moosüberwachsen in die Landschaft duckt. Und der Lärm der Vögel, die den Schlaf nicht finden in diesen Nächten, die ihren Namen nicht verdienen. Eben noch leuchtete links und rechts der Strasse das Gras. Ein paar Meter weiter verschluckt der Vulkan Hekla das Licht. Unzählige Lavafelsen säumen den Wegrand. Manche sind riesig und weiss von Dreizehenmöwen, die darauf nisten. Andere klein und pechschwarz, Gesteinsbuckel bloss. Und plötzlich sind sie sichtbar, die Gestalten und Gesichter. Überall. Tausende. Sie lösen sich aus dem Fels, hocken geschwätzig auf der Matte, Elfen und Trolle, die flüstern bei jedem Windstoss, trunken von dieser Helligkeit, die niemals schwinden will.

Zürisee im Winter Zürisee im Winter Zürisee im Winter Zürisee im Winter Zürisee im Winter Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer